Ein Haus ist Körper, Zeuge einer Zeit, es wird gemacht, bewohnt, abgewohnt, genutzt, verlassen, zerstört. Es wird aufgeworfen aus dem geologischen Material der Gegend, gebaut aus Stein, Ziegel, Holz, als epilogische Wölbung der Welt. Die großen Häuser sind besonders interessant, jene, die von Vielen besucht worden sind, die frequentierten. Es sind die vielen Leben, die in ihnen zurückgelassen worden sind, die das Rätsel solcher Häuser ausmachen, die dann so etwas werden wie schriftlose Chroniken. Bestimmte Gebäudetypen, für die die Regel der Frequentiertheit gilt, überholen sich historisch und werden dennoch – aus Gründen, die mit ihrem künstlerischen und chrono-logischen Wert zu tun haben – konserviert und geehrt, wie zum Beispiel die antiken Tempel, neuerdings aber auch Jüngeres, wie die baulichen Zeugen der Industrialisierung, also Fabriken, Zechen oder hochspezifische Fertigungsstätten. Ein ungewöhnliches Exemplar dieser jüngeren Kategorie ist das Südbahnhotel auf dem Semmering, ein besonderes Stück Geschichte. Seit über fünfzig Jahren dämmert es vor sich hin, dysfunktional, während die Bauteile, das Mobiliar, die Tapeten, die Böden et cetera tun, was sie tun müssen, nämlich ihrer organischen Wahrheit gemäß allmählich zerfallen, verbleichen, fadenscheinig werden. So strahlend seine Vergangenheit war, so ungewiss ist die Zukunft dieses stattlichen Gebäudes, das an einem Hang des Semmering thront.
Seine Weitläufigkeit ist bemerkenswert. Die Unendlichkeit der Zimmerfluchten, Gänge, Versorgungsräume, Säle und Keller weisen auf den Andrang vieler Gäste hin, die von einer Schar dienstbarer Geister versorgt worden sind. Die prosaische Namensgebung des Hauses ist so sachlich wie sprechend: Man kam mit dem Zug über die Südbahnstrecke von Wien auf den Semmering, der nicht lange brauchte, um vom Abfahrtsbahnhof zum Vorgebirge zu gelangen, wo die guten Wiener ihre Villen und Jagdhäuser besaßen. Sie empfingen dort sommers ihre Gäste und erholten sich von der Stadt und ihrem Lärmen. Die Eisenbahn markierte einen Quantensprung der Beförderungswirtschaft, der einen merklichen Anstieg an Logis-Bedarf auslöste, wie auch andere große Hotels am Semmering, das Panhans zum Beispiel, belegen. Die Potenzierung gesellschaftlicher Amüsements durch die Anreise zahlloser Wiener und internationaler Gäste war zweifellos gewaltig. Die großen Hotels gaben sich in ihrer Ausstattung interessanterweise so, als handele es sich um maßstäblich vergrößerte private Lokale. Alle Elemente der großbürgerlichen Wohnung lassen sich finden: der Diwan, die Spiegel und das Dekor, die Luster, der gewaltige Salon des Südbahnhotels. Der Niedergang des Hauses muss in den Fünfzigern angefangen haben, jedenfalls datieren aus dieser Zeit augenscheinlich die neueren Dekors, Stoffe und Tapeten. Sie vermischen sich seltsam mit dem historistischen Pomp der Gesellschaftsräume und den klassizistischen Zitaten auf Wandverkleidungen und Türen der Zimmer.
Yvonne Oswald hat dieses stille Haus, das sich in einem Zwischenreich befindet, zwischen Geschichte und Zukunft, zwischen Lebendigkeit und Zerstörung, immer wieder besucht, betrachtet, befragt und erfühlt. Auffällig ist der deutliche Überhang an Interieurs. Das Äußere des Hauses wird in wenigen Ansichten gezeigt, nie sieht man die gesamte Anlage. Daran lässt sich die Intimität, die Haus und Betrachterin zueinander erreicht haben, nachvollziehen. In Wirklichkeit sind die Fotografien Oswalds keine Architekturdokumentationen oder Interieurs, sondern Porträts eines Körpers einer verschwindenden Zeit, die lose an diesem gewaltigen materiellen Berg hängt, der eben das Südbahnhotel auf dem Semmering ist. In ihren Fotos erhalten die Dinge eine Form der Subjektivität, als seien sie nicht nur allmählich durch die sie nutzenden Menschen geladen worden, sondern schon als reine praktische Kommunikation konzipiert gewesen, als Humanoide, mittels welcher Menschen ihre Leben anordnen. Der Blick der Kamera streift und streichelt diese Dinge, die der Zirkulation des Nutzen vorläufig ganz entzogen sind, und erhöht deren Dinglichkeit zur Autonomie von Materialität, Form und Linie. Die Fotografin zeigt wie nebenbei, wie gut diese Dinge gemacht sind: die große Eleganz der Elemente, der Messingbeschläge, der Türfüllungen, der Buchstaben der Worte, die Funktion anzeigen und Orientierung geben. Einzelne „Wesen“ tauchen in verschiedenen Varianten auf, wie Liegen mit unterschiedlichen Bezügen oder Fauteuils, deren geschwungene Lehnen zur Lebenskurve des Hauses werden. Die Leere der Räume wird ebenso gezeigt wie die reizvolle Serialität der gestapelten Möbelmassen. Jemand hatte versucht, Ordnung in das zu Verlassende zu bringen. Manchmal aber sieht es so aus, als wäre einfach jemand weggegangen, vor dreißig oder vierzig Jahren. Die Türen stehen meistens offen, was seltsame Transiträume erzeugt und einen leichten Nadelstich ins Herz derjenigen, die sich nicht gerne verabschieden. Trotz des sichtbaren Niedergangs verliert das Haus keineswegs die Contenance, ganz im Gegenteil. Die an den Leisten abstehenden Tapeten, die löchrigen Bezüge, die abgeschlagenen Kanten der Lackierungen verleihen dem Haus die Würde einer Grande Dame, deren individuelles Alter vor dem Hintergrund einer noch längeren Geschichte niemals gegen sie verwendet werden darf. Da gibt es noch Reste eines Pomps, der kaum Spuren der Zeit aufweist, wie die korinthischen Säulen neben altrosa Wandbespannung und die Jugendstil-Deckenlünette, als folgte die Geschichte des Readymade nicht den Gesetzen der universalen Kompostierung in der Zeit. Atemberaubend die Fotografie des Großen Salons, die noch am ehesten in die Kategorie Architekturfotografie eingeordnet werden könnte: der gewaltige Raum, einmal der Verköstigung, Unterhaltung und Belustigung einer nicht kleinen Masse von Menschen gewidmet gewesen, entfaltet imperiales Flair, beherrscht vom metallenen Riesenluster, der wirkt wie ein mit der Überwachung betrautes spezielles Insekt. Ein Bild nach dem anderen führt hinein in das Innere des Baus, in seine Organe, von denen jedes einzelne für eine Funktion steht – wobei man sich der Suggestion nicht entziehen kann, dass diese Funktionen leicht und jederzeit wieder mit dem ihnen gemäßen Leben zu erfüllen wären. Es ist sogar so, dass man diese Vorstellung im Zuge der Betrachtung dieser Bilder mit wachsender Intensität hat, als müsste man gegen die Idee, dass das alles unwiederbringlich ein Ende nehmen wird, einschreiten.
Yvonne Oswalds künstlerische Dokumentation des Südbahnhotels balanciert auf des Messers Schneide: im selben Maße, wie sie beinahe zärtlich Niedergang, Funktionsverlust und Zerbröckeln dieses Hauses als Anatomin eines Cadavres Exquis nachzeichnet, wächst konsequent der Einspruch gegen das Ende, dem sich der Betrachter/die Betrachterin in der zunehmenden Annäherung, ja Identifikation anschließt. Die Fotografin bringt es fertig, durch ihren Blick eine Sehnsucht nach diesen Räumen herzustellen, sodass man auf der Stelle hinfahren und sein Quartier dort aufschlagen möchte, als wären die Untergangsgeschichte und noch viel mehr die bevorstehenden Neunutzungen und Umbauten ein grandioses Missverständnis gewesen, das es schleunigst richtigzustellen gilt. Gerade das so gut Gemachte an diesem Haus macht undenkbar, dass es verändert und sogar gelöscht werden soll. Die feine Komposition und Farbgebung der Fotografien, das Spiel mit Nähe und noch größerer Nähe, täuscht nicht darüber hinweg, dass diese Arbeiten Oswalds äußerst physisch angelegt sind und wirken. Jedes einzelne Bild setzt sich beinahe organisch beim Betrachter fest, nicht nur als Schönheit, die schmerzt, sondern als Schmerz des Verlusts. Die Dosis der Nostalgie ist in diesem Falle die doppelte, da sie sich in einem ihrerseits bereits aus der Nostalgie geborenen Projekt des Fin de Siècle ausbreitet.
Einige wenige der Fotografien setzen auf Spiegelungen – entweder wird das ganze oder ein Teil des Interieurs gespiegelt, wie durch einen mundgeblasenen Spiegel, dessen Unebenheit Verzerrungen und bizarre Verläufe produziert. Die Interieurs verschwimmen im Spiegelbild als würden sie aufgeweicht, entmaterialisiert in wässriger Lösung. Damit ist die Auflösung wie vorweggenommen, als würden diese Bilder projizieren, wie die vage Erinnerung an das Entschwundene aussehen wird. Aber es wirkt dieses im Spiegel Verschwimmenlassen – jenseits des großen Bildreizes, den es produziert – auch so, als müssten diese Möbel, gezierten Wände und Kanneluren, deren materielles Dasein so quer zur fließenden Zeit liegt, verformt und verflüssigt werden auf dem Weg zu einem Verschwundensein, den alle die gegangen sind, die sich in diesen Räumen einmal aufgehalten hatten.
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